Protokoll des 24/10/97 - provisional Edition

Jugendschutz und Schutz der Menschenwürde

A4-0227/97

Entschließung zum Grünbuch der Kommission über den Jugendschutz und den Schutz der Menschenwürde in den audiovisuellen und den Informationsdiensten (KOM(96)0483 - C4-0621/96)

Das Europäische Parlament,

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in Kenntnis des Grünbuchs der Kommission (KOM(96)0483 - C4-0621/96),
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unter Hinweis auf seine Entschließung vom 12. Dezember 1996 zu den Maßnahmen zum Schutz von Minderjährigen in der Europäischen Union(1) ,
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unter Hinweis auf seine Entschließung vom 13. März 1997 zu Informationsgesellschaft, Kultur und Bildung(2) ,
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unter Hinweis seine Entschließung vom 24. April 1997 zu der Mitteilung der Kommission über illegale und schädigende Inhalte im Internet(3) ,
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unter Hinweis auf die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. Juni 1997 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit(4) ,
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in Kenntnis des Berichts des Ausschusses für Kultur, Jugend, Bildung und Medien sowie der Stellungnahme des Ausschusses für Grundfreiheiten und innere Angelegenheiten (A4-0227/97),
A.
in dem Bewußtsein, daß die Europäische Union ein Raum ist, in dem freier Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr herrscht und in dem der freie Personenverkehr gemäß Artikel 7 a EGV ohne weitere Bedingungen zu verwirklichen ist,
B.
in der Erwägung, daß sich die Artikel F und K EUV ausdrücklich auf die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten beziehen, die unter anderem das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht auf die Achtung der Privatsphäre festschreibt,
C.
in der Erwägung, daß im Vertrag über die Europäische Union eine Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres vorgesehen ist, die auf bestimmte Aspekte des Jugendschutzes und des Schutzes der Menschenwürde in den neuen elektronischen Diensten Anwendung finden kann,
D.
unter Hinweis darauf, daß der Schutz von Minderjährigen und der Schutz der Menschenwürde eine Zielvorgabe von allgemeinem Interesse ist, der bei der Regulierung der Medien grundlegende Bedeutung zukommt, und daß deshalb so zügig wie möglich für den Schutz der Minderjährigen vor Inhalten gesorgt werden muß, die über die neuen Netze und Dienste zugänglich werden und die ihrer körperlichen und psychologischen Entwicklung Schaden zufügen können,
E.
in der Erwägung, daß sämtliche neuen Dienste rechtsstaatlichen Grundsätzen und den Auflagen des Staates bzw. der Staaten unterworfen werden müssen, in denen sie angeboten werden,
F.
in der Erwägung, daß das Spektrum vom Fernsehen bis zum Internet immer noch einige gemeinsame Merkmale aufweist, nämlich die elektronische Versorgung von Privathaushalten mit Information und Unterhaltung und zum zweiten den Rückgriff auf ein öffentliches Gut - die Ätherwellen - zur Erbringung dieses Dienstes,
G.
in der Erwägung, daß je nach der praktischen Einsetzbarkeit von Screening- Systemen und ihrer allgemeinen Anwendung - auf freiwilliger Grundlage - durch die Industrie unterschiedliche Arten von Regelungen erforderlich sein werden,
H.
in der Erwägung, daß unbedingt eindeutig zwischen illegalen Inhalten, die gegen die Menschenwürde verstoßen, und legalen Inhalten, die der körperlichen, psychologischen und sittlichen Entwicklung von Minderjährigen Schaden zufügen könnten, unterschieden werden muß; in der Erwägung, daß diese beiden Arten von Inhalten getrennt voneinander und in einer Weise behandelt werden müssen, die ihrem spezifischen Charakter angemessen ist,


1.    betont, daß die Europäische Union die geeignete Ebene ist, um eine vergleichende Studie darüber durchzuführen, wie die einzelnen Mitgliedstaaten neue Kommunikationsdienste ermitteln und regulieren, vor allem diejenigen, die über die allgemein anerkannten Begriffsbestimmungen für Rundfunk bzw. Fernsehen hinausgehen, mit dem Ziel, einen in sich schlüssigen europäischen Ansatz festzulegen und zu fördern, bei dem Verzerrungen zwischen verschiedenen Medien, die die gleichen Programminhalte anbieten, vermieden werden;

2.    bedauert, daß audiovisuelle und Informationsdienste neben ihren positiven Auswirkungen auch die Menschenwürde antasten, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen schädigen und zu strafbaren Handlungen anreizen können;

3.    betont, daß alle das Recht haben, durch jedes Kommunikationsmittel frei Informationen zu erhalten oder zu übermitteln, mit Ausnahme von Informationen, die gegen geltendes Recht verstoßen, die die Menschenwürde oder die Privatsphäre verletzen oder die die Entwicklung von Minderjährigen beeinträchtigen können;

4.    legt denjenigen Mitgliedstaaten, die die internationalen Instrumente zum Schutz von Kindern noch nicht ratifiziert haben, nahe, den auf diesem Gebiet bestehenden Übereinkommen beizutreten;

5.    stellt fest, daß sämtliche Mitgliedstaaten aufgrund ihrer nationalen Rechtsvorschriften über das rechtliche Instrumentarium verfügen, um bestimmte Arten von Inhalten, die insbesondere gegen die Menschenwürde und den Schutz von Minderjährigen verstoßen, für illegal zu erklären, daß jedoch diese nationalen Lösungen keine zufriedenstellende Antwort auf die rechtlichen Probleme geben, die durch die Internationalisierung und den grenzüberschreitenden Charakter dieser Kommunikationsformen geschaffen werden;

6.    unterstreicht die grundlegende Bedeutung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in den Bereichen Justiz und Inneres und fordert die Mitgliedstaaten auf, im Rahmen dieser Zusammenarbeit Daten auszutauschen und grenzüberschreitende Ermittlungen, Durchsuchungen und Beschlagnahmungen zu fördern, um das strafrechtliche Vorgehen gegen Straftaten in Verbindung mit illegalen und/oder für Minderjährige schädlichen Inhalten zu erleichtern;

7.    betont, daß Maßnahmen zum Jugendschutz und zum Schutz der Menschenwürde in den neuen Diensten nur effektiv sein können, wenn sie weltweit abgestimmt werden, und fordert die Kommission und die Regierungen der Mitgliedstaaten auf, sich auf der Ebene der Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation, der G7 und/oder der OECD sowie in bilateralen Gesprächen mit den USA und Japan um eine solche internationale Koordination zu bemühen;

8.    fordert die Mitgliedstaaten auf, den von der Europäischen Union vorgegebenen Rahmen im Bereich Justiz und Inneres optimal auszuschöpfen, um einen Grundstock von gemeinsamen europäischen Werten und Regeln im Hinblick auf Inhalte festzulegen, die gegen die Grundsätze der Menschenwürde verstoßen, und geeignete Formen der Zusammenarbeit von Justiz und Polizeibehörden bei der Ermittlung, strafrechtlichen Verfolgung und Bestrafung aller illegalen Verhaltensweisen zu entwickeln;

9.    hält es für notwendig, daß nach dem Vorbild der am 26. und 27. September 1996 in Dublin geschlossenen politischen Vereinbarung über die Bekämpfung von Pädophilie und Frauenhandel der Kommission ein analoger Auftrag erteilt wird, legislative Mindeststandards betreffend illegale Inhalte festzulegen, die es ermöglichen, auf der Ebene der Europäischen Union gemeinsame Grundsätze zu ermitteln, welche im internationalen Rahmen verteidigt werden können;

10.    fordert, daß die Europäische Union einen in sich schlüssigen und geeigneten Rahmen schafft, mit dem insbesondere die anzuwendenden Grundsätze und die im Hinblick auf den Schutz von Minderjährigen und den Schutz der Menschenwürde zu erreichenden Zielvorgaben für jede Anbieterebene festgelegt werden; dabei soll als Prinzip gelten, daß die Ziele des Schutzes Minderjähriger und der Menschenwürde sowohl durch gesetzliche Mindestverpflichtungen für Inhaltsanbieter als auch durch Maßnahmen der Selbstkontrolle sowie durch Hilfen für verantwortliche Entscheidungen auf der Konsumentenseite erreicht werden sollen;

11.    fordert die Mitgliedstaaten auf, unter Anwendung eines effizienteren rechtlichen Verfahrens bis zum 31. Dezember 1998 einen Rechtsrahmen auszuarbeiten, der die Mindestnormen bezüglich des illegalen Inhalts in den audiovisuellen und Informationsmedien enthält; fordert den Rat auf, es gemäß Artikel K.6 in Verbindung mit Artikel K.1 Nummer 7 EUV zu unterrichten, zu konsultieren und seine Auffassungen gebührend zu berücksichtigen, da es sich bei diesen Normen angesichts der Neuheit der Regelungsmaterie und ihrer zukünftigen Bedeutung zweifellos um einen "wichtigsten Aspekt” handelt;

12.    fordert die Mitgliedstaaten auf, in ständiger Abstimmung mit Europol eine Verwaltungszusammenarbeit auf der Grundlage gemeinsamer Leitlinien herzustellen, um die illegalen Inhalte zügiger und wirkungsvoller bekämpfen zu können; hält hierzu die Schulung der Polizei in den neuen Technologien und eine gezielte Information über deren rasante Weiterentwicklung für unerläßlich;

13.    fordert die Mitgliedstaaten auf, eine Verwaltungszusammenarbeit auf der Grundlage demokratisch festgelegter Normen herzustellen;

14.    fordert, daß die Inhalts- und Zugangsanbieter auf folgende gesetzliche Mindeststandards verpflichtet werden:

-    für die von ihnen selbst bereitgestellten Inhalte haften sie uneingeschränkt und übernehmen die Verantwortung, einschließlich der strafrechtlichen Verantwortung;

-    für strafwürdige Inhalte von ihnen zugänglich gemachter fremder Inhalte haften sie, wenn ihnen die einzelnen konkreten Inhalte positiv bekannt sind und wenn es ihnen technisch möglich und zumutbar ist, deren Nutzung zu verhindern;

-    für Entscheidungen über nicht strafbare, wohl aber möglicherweise den Jugendschutz und die Menschwürde beeinträchtigende Inhalte müssen die Inhalts- und Zugangsanbieter öffentlich einsehbare Maßstäbe und Organe freiwilliger Selbstkontrolle vorhalten;

15.    betont, daß im Zuge von Verhaltenskodizes, die zusammen mit den betroffenen Branchen und entsprechend dem vorstehend skizzierten europäischen Rahmen erstellt werden, schädigende Inhalte auf breiter Grundlage definiert werden müssen, um Minderjährige und andere gefährdete Gruppen wirksam zu schützen;

16.    betont die wichtige Rolle der Eigenverantwortung und der individuellen und der familiären Kritikfähigkeit, wobei das Eingreifen des Staates nur ergänzend wirken kann;

17.    empfiehlt, daß Filter- und Screening-Vorrichtungen mit aktiver Teilnahme der Europäischen Union umfassend erprobt werden, um ihre Wirksamkeit, Zugänglichkeit und Kosten zu ermitteln; unterstreicht hinsichtlich des Rundfunks, daß die abgeänderte Richtlinie als Grundlage für ein Vorgehen nach den vorstehend skizzierten Grundsätzen herangezogen werden sollte;

18.    fordert hinsichtlich der Online-Dienste, daß die Kommission prüft, inwiefern bei jedem einzelnen Dienst Formen der Überwachung möglich sind, bei denen der Art der betreffenden Aktivität Rechnung getragen wird;

19.    fordert, daß die Europäische Union geeignete Maßnahmen zur Entwicklung des Austauschs von Informationen und bewährten Praktiken zwischen den Mitgliedstaaten und interessierten Kreisen empfiehlt, um wirksame Instrumente zur verstärkten Sensibilisierung der Nutzer für den möglichen persönlichen Einsatz von Formen des häuslichen Screening und für die Verfügbarkeit wissenschaftlicher Informationen über die Konsequenzen bestimmter derzeit angebotener Dienste auf das Verhalten eines leicht zu beeinflussenden und unreifen Publikums zu ermitteln und zu fördern;

20.    betont, daß in die Überlegungen zur Sicherung des Jugendschutzes in den audiovisuellen und den Informationsdiensten auch die Werbung einbezogen werden sollte;

21.    fordert die Regierungen der Mitgliedstaaten dringend auf, in ihr Bildungssystem eine zur Entwicklung der Kritikfähigkeit gegenüber audiovisuellen Botschaften geeignete Erziehung für Jugendliche einzuführen;

22.    fordert die Kommission auf, auf europäischer Ebene Initiativen zur Sensibilisierung und Einbindung der Erwachsenen in die Medienerziehung zu fördern;

23.    fordert die Durchführung einer aus dem EU-Haushalt finanzierten europäischen Informationskampagne und die Ausarbeitung eines Aktions-, Informations- und Sensibilisierungsprogramms für Eltern und alle Bezugspersonen von Kindern (Lehrer, Sozialarbeiter usw.), um so gut wie möglich (auch durch technische Mittel) zum Schutz der Minderjährigen vor der Konfrontation mit Inhalten, die für ihre Entwicklung schädlich sein könnten, und zu ihrem Wohl beizutragen; weist darauf hin, daß sich die Kommission in dieser Hinsicht darauf beschränken sollte, Pilotprojekte zu finanzieren und den Austausch von Informationen zwischen den zuständigen Stellen auf nationaler Ebene zu koordinieren und zu fördern;

24.    empfiehlt den öffentlichen Stellen und anderen interessierten Kreisen auf europäischer wie auf nationaler Ebene, Verbraucherorganisationen, kulturelle Verbände und Vereinigungen von Dienstnutzern auf breiter Grundlage in die Festlegung und Überwachung von Verhaltenskodizes und in die einschlägige Unterrichtung der Bürger einzubinden;

25.    betont, daß angesichts der technischen Konvergenz von Übertragungswegen elektronischer Kommunikation eine breite Diskussion notwendig ist, als deren Ergebnis je nach dem spezifischen Charakter des angebotenen Dienstes der jeweils sinnvolle Rechtsrahmen mit dem jeweils adäquaten Verhältnis von gesetzlicher Verpflichtung, Selbstkontrolle der Anbieter und Konsumentenverantwortung bestimmt werden kann; ist der Ansicht, daß beim Umgang mit schädigenden und illegalen Inhalten die im Rundfunksektor gemachten Erfahrungen und das dort erreichte Schutzniveau als Richtschnur angesehen werden sollten;

26.    ruft die Europäische Union auf, im Zuge der international geführten Debatte über die neuen audiovisuellen und Informationsdienste innerhalb der entsprechenden Foren die Einbeziehung einer ethischen Dimension, die auf gemeinsamen europäischen Werten fußt, zu fördern;

27.    befürwortet das von einigen nationalen Fernsehkanälen eingerichtete System der Piktogramme, die den jeweiligen Gewaltgrad des ausgestrahlten Programms anzeigen, und hofft, daß die Mitgliedstaaten dieses System anwenden, falls sie nicht über ein besser ausgearbeitetes Filtersystem (Typ V-Chip) verfügen;

28.    fordert die Kommission auf, eine Untersuchung über die Wirksamkeit der verschiedenen bereits vorhandenen Systeme im Hinblick auf die inhaltliche Einstufung der Programme durchzuführen;

29.    verweist die Mitgliedstaaten darauf, daß die kollektiven kulturellen und verhaltensspezifischen Auswirkungen der angebotenen Dienste von ihnen zu beachten sind, auch wenn die wirtschaftliche Rentabilität der erforderliche Überlebenstest für den Großteil der neuen Dienste sein wird;

30.    beauftragt seinen Präsidenten, diese Entschließung der Kommission und dem Rat sowie den Regierungen und den Parlamenten der Mitgliedstaaten zu übermitteln.

1) ABl. C 20 vom 20.01.1997, S. 170.
2) ABl. C 115 vom 14.04.1997, S. 151.
3) ABl. C 150 vom 19.05.1997, S. 38.
4) ABl. L 202 vom 30.07.1997, S. 60.